Opferrollen

Am 24. Mai, einen Tag vor den Europa- und Kommunalwahlen, haben in Leipzig weit über 1000 Menschen gegen Rassismus und für eine Willkommenskultur gegenüber Geflüchteten demonstriert. Das ist gut, schön und richtig und darüber hinaus ein wichtiges Zeichen. Schließlich konnte man in den Kommentarspalten unter dem Artikel zu besagter Demo auf LVZ online und in den sozialen Netzwerken nachlesen, wie notwendig ein Engagement gegen Rassismus gebraucht wird.
Doch es soll weniger um diejenigen gehen, deren hasserfüllte Postings sofort gelöscht werden. Sondern um jene, die vermeintlich unschuldig fragen, was denn daran so schlimm sein soll, wenn man eben lieber unter sich bliebe. Warum man denn gleich ein Nazi sei, wenn man lieber weniger Ausländer in diesem Land sehen würde. Das sind vermutlich keine ideologisch gefestigten Nazis oder NPD-Anhänger, die so etwas fragen, sondern ganz normale Bürger, die sich selbst als bürgerlich, liberal oder gar links bezeichnen würden.
Auf die Gefahr hin, sehr langweilig zu sein: Dieser Wunsch macht einen vielleicht nicht gleich zum Nazi, rassistisch ist er allemal. Denn er definiert Menschen allein über ihre Herkunft und wertet sie ab, indem er unterstellt, dass die schiere Anwesenheit von Menschen aus anderen Teilen der Welt pauschal eine Verschlechterung der eigenen Lebensumstände darstellt. Wenn dieser Rassismus also Rassismus genannt wird, ist das keine Verleumdung, wie oft in die Foren geheult wird, sondern eine schlichte Feststellung von Tatsachen.
Überhaupt ist es erstaunlich, wie oft sich viele Bürger in der gesamten Debatte um die Unterbringung von Asylbewerbenden und auch den Moschee-Neubau in Gohlis als die eigentlichen Opfer sehen – und wie enthemmt sie bereit sind, in vermeintlicher Notwehr loszuschlagen – oder schweigend zuzusehen, wie andere es tun. Die Bürgerversammlungen, auf denen das Unterbringungskonzept für Asylbewerbende bzw. der Moschee-Neubau vorgestellt wurden, zeigten dies deutlich.
Es gibt Menschen in dieser Stadt, die ernsthaft glauben, ihre Lebensqualität und Sicherheit würde darunter leiden, dass Rechts- und Sozialstaat in Gefahr geraten, wenn in ihrer Nachbarschaft Muslime beten oder Geflüchtete ein temporäres zu Hause finden. Deshalb wollen sie anderen Menschen, die vor Krieg, Hunger, Folter und Tod fliehen mussten, noch nicht einmal kurzzeitig in ihrer kleinen Idylle Zuflucht gewähren. Und sie sehen es als eine vertretbare Reaktion auf die vermeintliche „Islamisierung“ ihres Stadtteiles an, auf dem Baugrundstück einer Moschee gepfählte Schweineköpfe aufzustellen.
In der Diskussion war häufig zu hören und zu lesen, dass manche LeipzigerInnen ihre demokratischen Rechte beschnitten sehen, wenn irgendwo eine Moschee oder eine Flüchtlingsunterkunft entsteht, ohne dass sie vorher um ihre Meinung gebeten wurden.
Doch es gibt kein Recht darauf, sich seine Nachbarn aussuchen zu dürfen oder vom Leid dieser Welt unbehelligt zu bleiben. Was es aber gibt, ist ein Recht auf Asyl und auf die freie Religionsausübung. Viele Geflüchtete sind genau deshalb hier, weil sie sich in ihrer Heimat für genau die Bürgerrechte stark gemacht haben, die die WutbürgerInnen von Leipzig zu verteidigen glauben. Und das einzige, was ihnen abverlangt wird, ist, Menschen anderer Herkunft und Konfession mit der zivilisierten Indifferenz der Großstadt zu begegnen. Das ist wirklich kein Opfer.
Immer wieder wird – meist von Seiten konservativer PolitikerInnen – gefordert, man müsse die Sorgen und Ängste der Bevölkerung ernst nehmen. Das sollte man in der Tat, sind sie doch der Nährboden, auf denen Hass und Gewalt gut gedeihen. Aber vielleicht sollte man auch die BürgerInnen selbst ernst nehmen – und ihnen erklären, dass ihre Angst überflüssig ist, da sie auf rassistischen Stereotypen und nicht auf der Realität fußt.
Wer behauptet, Asylbewerbende würden nur wegen der Sozialleistungen herkommen, unterstellt ihnen Lüge und Betrug. Wer im Umfeld einer solchen Unterkunft ein steigendes Kriminalitätsaufkommen erwartet, nimmt an, dass Asylbewerbende krimineller sind als andere gesellschaftlichen Gruppen. Und wenn Eltern gegen eine Unterkunft für Geflüchtete gegenüber einer Grundschule mobil machen, steckt darin die Annahme, dass von Geflüchteten eine Gefahr für ihre Kinder ausgeht. Tatsächlich gibt es keinerlei Beleg dafür, dass Geflüchtete bessere, schlechtere, ehrlichere oder kriminellere Menschen sind als alle anderen auch. Selbiges gilt für Muslime.
Solche rassistischen Ressentiments sind tief in unserer Gesellschaft verwurzelt. Sie haben oft eine lange unselige Tradition und haben sich fest in die Vorstellungen und in die Sprache der deutschen Mehrheitsgesellschaft eingenistet. Es wird großer und nachhaltiger Bemühungen bedürfen, diesen Rassismus wieder loszuwerden. Deshalb muss man versuchen, mit jenen, die einer rationalen Argumentation zugänglich sind, das Gespräch zu suchen, und ihnen zeigen, dass ihre Vorurteile eben genau solche sind. Den Unbelehrbaren kann man indes nur sehr deutlich machen, dass Rassismus vollkommen inakzeptabel ist.
Sicher: Nicht jede Kritik an einer Unterkunft für Geflüchtete oder einer Moschee ist rassistisch motiviert, nicht jeder Kritiker ein Rassist. Anders herum ist aber jeder Geflüchtete und jeder Moslem von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und von ihren Folgen betroffen. Und es sind oft dieselben Menschen, die einerseits für Verständnis für die rassistischen Sorgen der weißen Mehrheitsbevölkerung werben, die andererseits die zahllosen Übergriffe, Drohungen und Beleidigungen, die genau aus diesem Rassismus resultieren, als Einzelfälle kleinreden und den tatsächlichen Opfern ein ums andere Mal sagen, sie sollten sich bitte nicht so anstellen.
Dabei sollte man vor allem mal deren Ängste und Sorgen ernst nehmen, denn die sind leider in der Realität begründet: Allein 85 rassistisch motivierte Übergriffe gab es laut dem Jahresbericht der Opferberatung des RAA im vergangenen Jahr in Sachsen, die Dunkelziffer dürfte um einiges höher liegen. Und da sind die alltäglichen Beleidigungen und Pauschalverurteilungen noch gar nicht mitgerechnet. Deshalb ist es gut und richtig, gegen Rassismus auf die Straße zu gehen, und denen, die davon betroffen sind, zu zeigen, dass man sie mit dem Problem nicht alleine lässt. Aber das reicht nicht.
Für eine echte Willkommenskultur muss man sich wohl oder übel mit den eigenen Ressentiments befassen – und mit denen seiner Nachbarn. Immer und immer wieder. Man muss Rassismus Rassismus nennen, wo immer man ihn findet. Vor allem aber muss man den LeipzigerInnen klar machen, wer hier die Opfer sind – und wer nicht.
TVM